Die Performance am 5. Juli: So war der Tag für uns

Zunächst merkt man gar nicht, was da gleich passiert. Über einen quälend langen Zeitraum hat sich der Burchardplatz gefüllt. Von allen Seiten sind die grauen Lehmgestalten herangeschlichen. Schweigend und in Zeitlupe, begleitet von dem metallischen Klackern der unsichtbaren Dosen in ihren Händen. Eineinhalb Stunden dauert die Performance da schon. Eine Prozession von Menschen, die weltentrückt durch die Straßen gezogen sind, der Blick leer, die Schritte schleppend. Die 1000 GESTALTEN sollen eine Gesellschaft verkörpern, der das Gefühl dafür abhanden gekommen ist, dass auch eine andere Welt möglich ist. Dass nicht Börsennachrichten über unser Glück bestimmen, sondern gesunde Beziehungen, und dass sich Glück nicht darüber definiert, was wir haben, sondern was wir sind.

 

Die Keimzelle für die Zukunft

Die Last eines solchen Lebens, seine Steifheit und Freudlosigkeit – all das überträgt sich in diesem Moment auf das Publikum; Touristen, Passanten und Menschen, die in den angrenzenden Gebäuden arbeiten und an die offenen Fenster gekommen sind. Kunst vermittelt sich nicht allein, indem man darüber nachdenkt. Kunst kommt erst zur Entfaltung, wenn sie ein Gefühl dorthin schickt, wohin Gedanken nicht gelangen, und dieser Moment ist ein eindrucksvoller Beleg dafür. Und dann beginnt es in der ersten Gestalt zu arbeiten. Sie windet sich, als hätte sie Schmerzen, beugt den Oberkörper nach vorn, reibt sich das Gesicht, schreit. Dann reißt sie sich das Jacket auf, als sei es eine Zwangsjacke, gefolgt von Krawatte und Hemd, schleudert alles auf den Boden und durch dem Ton, der daraus nach oben stäubt, kommt ein blaues T-Shirt zum Vorschein. 

Die Gestalt, befreit von ihrem Panzer, wankt über den Platz, geht auf die nächste Gestalt zu und initiiert deren Transformation. Sie trägt unter ihrem grauen Kostüm ein grünes T-Shirt. Es folgt die dritte (türkis) und die vierte (rot) und eine Viertelstunde später steht eine Wolke aus Staub über dem Platz. Sie wird zum eigentlichen Symbol dieser Performance. Denn in ihr steckt plötzlich all das, was das Leben der Menschen unter ihr so grau gemacht hat. Und was machen die? Sie sind bunt geworden und schreien, tanzen, lachen. Fassen sich an den Händen und umarmen sich. Und das Publikum jubelt mit. Die Botschaft hat sich übertragen. Eine anderes Dasein ist möglich. Und es reicht einer oder eine, die eine Veränderung in Gang setzt. Die Keimzelle für die Zukunft ist der Raum zwischen dir und mir – so formuliert es eines der Mitglieder des Kollektivs auf unserer Website. Dieser Raum hat sich vervielfacht. 

 

"An so etwas beteilige ich mich zum ersten Mal“

So findet in diesem Moment ein halbes Jahr Vorbereitung ein Ende, das sich die etwa 100 Menschen, die zu diesem Kollektiv gehören, nicht schöner hätten vorstellen können. Ab acht Uhr stehen am Morgen die vielen hundert Freiwilligen an den Check-in-Schaltern im Hamburger Oberhafen. Viele kommen aus Hamburg und Berlin. Aber auch aus Kiel oder Rotterdam sind sie angereist, um an diesem Tag dabei zu sein. „Es ist das erste Mal, dass ich mich an so etwas beteilige“, sagt eine junge Frau, die sich für Schauspiel und Kunst interessiert, aber nur, wenn sie in einem sozialen oder politischen Kontext stehen. Es sind Kinder dabei und Senioren, Freundeskreise und Busladungen. Nach wenigen Stunden haben sie den Parcours aus Ankleiden, Einlehmen und finaler Kontrolle durchlaufen, der aus vielen Individuen eine uniforme Armee der Seelenlosen macht. Wenn man so will, haben sie ihre Seele vorher in einem Plastiksack an der Garderobe abgeben, versehen mit einer Nummer, so dass sie sie nach der Performance wieder zurückbekommen.

Und dann ziehen sie los, in insgesamt 25 Gruppen, von denen jede genaue Anweisungen hat, wohin sie wann zu laufen hat und auch wie. Aber, so erzählt es später ein Teilnehmer, schon nach einer halben Stunde seien die Instruktionen der Choreographen ganz weit weg gewesen. „Improvisieren kann man erst, wenn man einen festen Plan hat“, sagt er. Die Gruppen verselbständigen sich. Sie kommen zwar noch zu den vorab festgelegten Zeiten an, wo sie die Choreographie vorsieht. Aber sie bewegen sich so, wie es ihrem Gefühl entspricht. Die graue Kruste, die immer rissiger wird, je länger die Performance dauert, das schleppende Tempo und das Klackern, das manchmal wie in einem Bienenschwarm anschwillt, sorgen dafür, dass die Darsteller irgendwann keine Rolle mehr spielen – sie sind die Lehmgestalten. Deren Bild wirkt umso surrealer, als sie an den Schaufenstern in der Hamburger Innenstadt vorbeikommen. Whiskey, Eventgastronomie, Edelkaufhaus – eine ganz normale Fassade unseres heutigen Lebens.

 

"Aufwachen!", kommentiert eine Userin

Lange weiß das Publikum nicht recht, wie es sich im Angesicht dieser Prozession verhalten soll. Die einen bleiben auf den Stühlen der Open Air-Bereiche der Restaurants sitzen, gucken aber trotzdem andauernd über ihren Tellerrand. Andere stellen sich genau über Gestalten, die einen Zusammenbruch simulieren und auf dem Boden liegen bleiben, und fotografieren sie wie erlegte Tiere. Viele lassen ihre Telefone und Kameras allerdings stecken, vielleicht, weil sie zu sehr mit der Entschlüsselung der Botschaft hinter dieser Performance beschäftigt sind und der Frage, was die für sie und ihr Leben bedeutet. Das merkt man auch daran, dass es auf dem Burchardplatz immer leiser wird, je länger die Performance dauert. Irgendwann ist nur noch das Klackern zu hören. Bis zu dem Moment, als sich die erste Gestalt in einem Urschrei aus ihrem Panzer befreit.

Auch im Internet entwickelt die Performance schließlich ihr Eigenleben. In einem Facebook-Livestream sehen konstant mehrere hundert User zu. Am Ende des Tages wird er über 300 000 Menschen erreichen. Sie kommentieren mal bewegt, mal zynisch, was sie da sehen. „Besser kann man nicht zeigen, was Entfremdung mit den Menschen macht.“, schreibt jemand. „Eine typische After Hour“ ein zweiter und „Das ist die Welt der Zukunft, wenn das hier so weiter geht.“ eine dritte. Kurz vor Schluss nur ein einziges Wort mit einem Ausrufezeichen - „Aufwachen!“. In diesem Weckruf steckt der Samen, der sich jetzt bei so viele Menschen wie möglich einnisten soll. Und wenn die Saat dann aufgeht und jede und jeder Einzelne damit beginnt, im eigenen Umfeld Veränderungen anzustoßen, dann hat sich mit den 1000 GESTALTEN das erfüllt, wovon wir geträumt haben, als die Idee im Februar bei uns zu keimen begann.

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